Offener Brief an den Bundesrat

An den Bundesrat und die politischen Parteien

Begutachtungswesen in der IV  DOK Sendung vom 19.9.2024
«Das System IV – Die unheimliche Macht der Gutachter»

Sehr geehrter Damen und Herren Bundesräte
Sehr geehrte Damen und Herren Bundesparlamentarier

Die DOK Sendung vom 19.9.2024 hat einmal mehr einer breiten Öffentlichkeit aufgezeigt, was «Versicherte Schweiz» und Versichertenvertreter aus der ganzen Schweiz seit Jahren anprangern: Das Verfahren bei der IV ist geprägt von systemimmanenten Fehlanreizen, welche falsche und oberflächliche Gutachten begünstigen und so zu fehlerhaften Entscheiden führen. Die versicherte Person bleibt auf der Strecke. Wir können Ihnen aus Rückmeldungen unzähliger Betroffener sowie aus den Erfahrungen von über 50 Geschädigteanwälten versichern: Der DOK Film zeigte nur die Spitze des Eisbergs.

Weder die IV noch die Gerichte waren in der Lage, die eklatant mangelhaften PMEDA Gutachten – es waren laut der EKQMB 9 von 10 Gutachten in den Jahren 2022 -2023 – zu identifizieren und aus dem Recht zu weisen. Schlimmer noch wurden diese Gutachten von den Gerichten bis zum Bundesgericht geschützt und gestützt darauf fehlerhafte Leistungsentscheide getroffen. Die Qualitätsmängel betreffen nicht nur die PMEDA, sondern zahlreiche andere privatwirtschaftlich geführte Begutachtungsfirmen (vgl. dazu auch Rainer Deecke, Invalidenversicherung: Verfahren mit ungleichen Waffen, Plädoyer 5/2024).

Die Gründe für diese massive Fehlleistung des Rechtsstaats sind:

  • Finanzielle Fehlanreize für Gutachter, Quantität und nicht Qualität zu liefern;
  • Erheblicher (unbezahlter) Mehraufwand für Gutachter, die eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigen durch umfangreiche Rückfragen der RAD;
  • Unkritische und liberale Rechtsprechung des Bundesgerichts, was die Qualitätsanforderungen an Gutachten anbelangt (fehlende Verbindlichkeit der gutachterlichen Leitlinien);
  • Einseitige, selektive Prüfung der Gutachten durch die RAD: Kontrolliert und kritisiert wird nur dann, wenn Gutachten eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigen;
  • Unfähigkeit der Gerichte, fachliche Mängel in Gutachten zu erkennen

Wir fordern, dass die Politik die inakzeptable Situation für Betroffene endlich verbessert. Folgende Verbesserungsvorschläge möchten wir Ihnen unterbreiten:

  • Verpflichtung für Spitäler mit Leistungsauftrag, Gutachten zu erstellen, damit die wichtige klinische Erfahrung endlich wieder mehr Gewicht erhält!
  • Schaffung staatlicher, an die Universitäten angebundener Gutachtenszentren!
  • Verbindlichkeit der medizinischen Begutachtungsleitlinien!
  • Recht der versicherten Person, Ihren behandelnden Arzt oder Privatgutachter gerichtlich befragen zu lassen, damit diese eine faire Chance erhält, ihren Standpunkt in das Verfahren einzubringen!
  • Vollständige Entkoppelung der Finanzierung der Gutachten von der IV/BSV!
  • Verbesserung der Unabhängigkeit und Neutralität der RAD, indem die Gutachten unabhängig vom Ausgang versicherungsmedizinisch überprüft werden!
  • Erhöhung der Vergütung der Gutachter nach Stundenaufwand!
  • Schaffen einer Möglichkeit, rechtskräftige Entscheide in Revision / Wiedererwägung zu ziehen, damit falsche Entscheide auch durch die versicherte Person revidiert werden können und nicht nur durch die Versicherung (Art. 53 Abs. 2 ATSG).

Gerne stehen wir für Fragen zur Verfügung oder sind bei der Umsetzung behilflich.

Mit freundlichen Grüssen

Rainer Deecke                       Massimo Aliotta                     Natalie Matiaska
Präsident                                Vertrauensanwalt                   Vertrauensanwältin