Bundesgerichts-Entscheid: Negative Signalwirkung auf Eingliederungswille?

Unser Vorstandsmitglied Rechtsanwältin Deborah Büttel zum neusten Leitentscheid des Bundesgerichts: Die provisorische Weiterversicherung sei denjenigen Versicherten vorbehalten, welche vor Durchführung einer Eingliederungsmassnahme bereits effektiv eine Rente beziehen und somit aus der Rente heraus eingegliedert werden. Ein nicht restlos überzeugendes Urteil, findet Deborah Büttel.

Das Bundesgericht hat vor wenigen Tagen einen Leitentscheid (9C_6/2023 vom 12. März 2024) veröffentlicht, mit dem es erstmals die Frage beantwortet hat, ob die provisorische Weiterversicherung nach Art. 26a BVG auch dann zum Tragen komme, wenn – wie im vorliegenden Fall – rückwirkend auf einen Zeitpunkt, zu welchen Eingliederungsmassnahmen stattfanden, eine Rente zugesprochen wird.

Die Versicherte war ab Juni 2014 aufgrund einer schubförmig verlaufenden Multiple Sklerose bis zum Eintritt der Invalidität durchgehend zu mindestens 40 % arbeitsunfähig. Die Pensionskasse, bei der sie im Juni 2014 versichert war, hatte folglich eine Invalidenrente aus der beruflichen Vorsorge zu entrichten.

Ende Juni 2014 meldete sich die Versicherte bei der Invalidenversicherung zum Bezug von Leistungen an. Sie nahm in der Folge an Eingliederungsmassnahmen teil und erhielt durch grossen Einsatz und Eingliederungswillen eine von Januar 2017 bis Dezember 2018 befristete Anstellung im Pensum von 50 Prozent als Datenbankverantwortliche Fundraising. Danach konnte sie keine Tätigkeit mehr ausüben und war ab März 2018 vollständig arbeitsunfähig. Arbeitgeberseits veranlasste vertrauensärztliche Abklärungen ergaben, dass die von ihr ausgeübte Tätigkeit als Datenbankverantwortliche nicht optimal sei. Erst im Jahr 2019 wurde der Versicherten rückwirkend seit 1. Mai 2015 eine abgestufte Rente (Viertelsrente, Dreiviertelsrente, ganze Rente, Viertelsrente, ganze Rente) zugesprochen. Die Pensionskasse richtete der Versicherten ebenfalls eine entsprechende abgestufte Rente aus. Mangels Aktivversicherung zum Zeitpunkt der Erhöhung der Rente, richtete die Pensionskasse gestützt auf ihr Reglement ab 1. Juni 2018 bloss eine BVG-Minimalrente aus. Streitig war in diesem Fall, ob sich die Versicherte auf die provisorische Weiterversicherung nach Art. 26a BVG berufen könne. Denn dann wäre die Versicherte bei revisionsweiser Herabsetzung oder Aufhebung des IV-Rentenanspruchs während dreier Jahre zu den bisherigen (höheren) reglementarischen Bedingungen bei der Pensionskasse versichert gewesen. Das Bundesgericht hatte zu beurteilen, ob die Existenz einer provisorischen Weiterversicherung einen effektiven Rentenbezug vor der Teilnahme an Eingliederungsmassnahmen (bzw. der dieser gleichgestellten Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit oder Erhöhung des Beschäftigungsgrades) voraussetzt oder ob die provisorische Weiterversicherung auch dann gilt, wenn – wie vorliegend – rückwirkend auf einen Zeitpunkt, zu welchen Eingliederungsmassnahmen stattfanden, eine Rente zugesprochen wird.

Das Bundesgericht befand, dass die provisorische Weiterversicherung nur denjenigen Versicherten vorbehalten ist, welche vor Durchführung einer Eingliederungsmassnahme bereits effektiv eine Rente beziehen und somit aus der Rente heraus eingegliedert werden. Die Konstellation der Versicherten, der rückwirkend erst die Rente auf den Zeitpunkt hin zugesprochen wurde, in welchem Eingliederungsmassnahmen stattfanden, sei dem nicht gleichzusetzen. Damit greift die provisorische Weiterversicherung in solchen Fällen nicht und die Versicherte muss sich mit einer BVG-Minimalrente ab 1. Juni 2018 begnügen.

Das Urteil ist kritisch zu hinterfragen, zumal es eine negative Signalwirkung auf den Eingliederungswillen von Versicherten erzeugt. Vor diesem Hintergrund werden Versicherte mit Aussicht auf eine überobligatorische BVG-Rente kaum Motivation finden, vor der Rentenverfügung der IV ernsthafte Anstrengungen zu unternehmen, eine Arbeitsstelle (probeweise) anzutreten oder Eingliederungsbemühungen zu tätigen. Man wird den Versicherten am besten raten, sich nicht gross anzustrengen und damit den Erlass einer Rentenverfügung zu beschleunigen. So können sie sicherstellen, dass sie bei den anschliessenden Wiedereingliederungsbemühungen Anspruch auf die provisorische Weiterversicherung haben. Ob dies im Sinne des Gesetzgebers war, ist aber ebenfalls zu bezweifeln.

Mit dem Hinweis, weshalb eine Analogie zur geltenden Rechtsprechung, dass sich die rückwirkende Zusprache einer abgestuften und/oder zeitlich befristeten Invalidenrente, die sich nach denselben Regeln wie die Revision eines bestehenden Rentenanspruchs nach Art. 17 ATSG richtet, hier nicht herangezogen werden könne, vermag das Bundesgericht leider auch nicht ganz zu überzeugen.

Autorin: Rechtsanwältin Deborah Büttel